Bei einem Besuch Londons können sich empfindsame Gemüter durchaus beobachtet vorkommen. Und das nicht eines imaginären Promifaktors wegen, sondern aufgrund der vielen Überwachungskameras, die einen von Häuserwänden, Lampenmasten und Hauseingängen aus beobachten. Glücklicherweise lässt sich die Erscheinung ganz gut verdrängen, sonst wäre der Kurzurlaub in Englands Metropole schnell getrübt.
Ach, das kennen wir doch von zuhause, werden die Bewohner anderer Großstädte jetzt einwenden. Aber weit gefehlt. Die Dichte der elektronischen Augen (und Ohren) im Berliner Regierungsviertel dürfte noch deutlich unter der einer Londoner Einkaufsstraße wie der Oxford Street liegen. In London sollen es geschätzt über eine Million Kameras sein.
All diese Kameras machen natürlich nur Sinn, wenn ihre Bilder auch angesehen und im Falle eines Fehlverhaltens darauf zeitnah reagiert wird. Daraus ergibt sich eine einfache Rechnung, die den Irrsinn des Ganzen deutlich macht:
Stellen Sie sich vor, vor einer Wand mit jeweils 10 flimmernden Kamerabildern säße je ein Mensch, der die Bildschirme den ganzen Tag aufmerksam beobachtet. Das allein ist schon schwer vorstellbar. Aber angenommen, es wäre so, dann wären allein in London um die 100.000 Menschen mit dieser Aufgabe beschäftigt. Nun kann man über diese Rechnung streiten und sie so lange korrigieren, bis man auf eine plausible Zahl von berufsmäßigen Voyeuren kommt. Sie werden aber zugeben, dass die Überwachung dann in den meisten Fällen völlig sinnlos und eine mögliche Entdeckung von Untaten reiner Zufall wäre.
Es sind übrigens beileibe nicht nur Staat und Kommunen, die diese Kameras betreiben. Die Mehrzahl wird von Geschäftsleuten und Privatpersonen installiert. Es ist geradezu schon zu einer Manie vieler Londoner geworden. Beim Besuch eines kleinen Restaurants in China Town viel mein Blick auf einen großen Monitor, der auf dem Bartresen stand. Er war in neun Rechtecke unterteilt, in denen die Aufnahme jeweils einer Überwachungskamera lief.
Als wir am nächsten Morgen bei unseren Gastgebern im Reihenhaus mit Garten am Stadtrand Londons saßen, erzählten wir ihnen von dieser ungewöhnlichen Beobachtung. Anstatt jedoch unsere Verwunderung zu verstehen, wiesen sie uns voller Stolz darauf hin, dass auch sie in und am Haus mehrere Kameras betrieben, deren Bilder sie mit einem mobilen Endgerät abrufen konnten.
Man kann das sicher als einen mehr oder weniger lustigen Spleen abtun. Irgendwann werden aber keine Menschen mehr hinter den Bildschirmen sitzen. Dann wird eine Software diese Aufgabe übernehmen. Eine Software, die Gesichter erkennt und Handlungen bewertet, die wirklich alles sieht und nie ermüdet. Bisher funktionieren entsprechende Lösungen zum Glück noch nicht zuverlässig. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Ich befürchte, dass, wenn es soweit ist, von derartig Kameravernarrten Menschen wenig Widerstand zu erwarten ist.