Können Städte Charisma haben? Im ursprünglichen, christlich-religiösen Sinn sowie in der soziologisch-wissenschaftlichen Definition sicher nicht. In der Alltagsbedeutung dann aber vielleicht schon: „Charismatische Menschen haben eine positive Ausstrahlung und einen gesunden Optimismus. Sie umgibt eine fesselnde Aura, mit der sie begeistern und für sich gewinnen können.“

Das trifft auf einige, wenn auch nicht alle Städte, die ich kenne, zu. Eher kleine Städte haben oft etwas Heimeliges, Überschaubares, das Sicherheit gibt und Heimat bedeutet. Manche historisch gewachsenen Großstädte besitzen einen schwer zu fassenden inspirierenden Geist, der die Bewohner verbindet und Fremde anzieht. Aber es gibt auch bei den großen Metropolen etwas Derartiges. Wobei es hier eher das Versprechen von Freiheit, Vielfalt und vielleicht auch Größe ist, das verlockt.

Vergleichen kann ich insbesondere meine Heimatstadt Leipzig mit ihren 600.000 Einwohnern und die Metropole Berlin, in der ich seit langem lebe, mit ihren fast vier Millionen Bewohnern.

In Leipzig, wo ich aufgewachsen bin, hat sich seit Jahrhunderten, insbesondere seit der Reformation ein protestantisch geprägtes Stadtbürgertum entwickelt, das neben dem wirtschaftlich dominierenden Fernhandel vor allem durch Bildung, Kultur und Kunst geprägt ist. Diese sind an Institutionen (Leipziger Messe, Gewandhausorchester, Thomanerchor u.a.) und an charismatische Personen (Bach, Mendelsohn Bartholdy, Kurt Masur u.a.) gebunden und werden mittels Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben. Wer zuzieht, wird zumeist in diesen Strudel hineingezogen und selbst ein Teil davon. All das hat übrigens unterschiedliche Zeiten, hellere und dunklere, überlebt.

Den größten Teil meines Lebens habe ich inzwischen in Berlin verbracht. Wie die meisten Metropolen ist Berlin ein Flickenteppich, eine Stadt aus vielen kleinen Welten, hier Kieze genannt. Entstanden aus zwei kleinen Städtchen, wurde Berlin 1920 durch massive Eingemeindung ganzer Städte (z.B. Charlottenburg, Spandau und Köpenick) zu Großberlin. Dieses war damals nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt. Anders als mittelalterlich geprägte Städte, besitzt Berlin kein wirkliches Stadtzentrum, das früher einmal von einer Stadtmauer umgeben war. Wenn man dennoch von einer zentralen City sprechen will, so gibt es in Berlin aufgrund der langen Teilung der Stadt gleich zwei Zentren: die City-West und die City-Ost. Für mich lebt eine Stadt wie Berlin vor allem von dem Versprechen, dass hier alles möglich ist: ungezähmte Freiheit und bunte Vielfalt verbunden mit einer Portion geordnetem Chaos und bei aller Kälte der Großstadt einer Infrastruktur, die doch das Überleben sichert.

Folgende bezeichnende Geschichte habe ich schon oft erzählt: Einige Jahre lebte ich im grünen Ortsteil Wilhelmshagen am äußersten Rand Berlins. Zu dieser Zeit arbeitete ich im recht provinziellen Potsdam direkt am Park Sanssouci. Aber Wohnen und Arbeiten in der abgeschiedenen Idylle war zu viel des Guten für mich. Deshalb stieg ich öfters auf der Hälfte meines Heimwegs am Alexanderplatz aus dem Regionalexpress aus und tauchte im Gewühl der Menschenmassen unter. Dort fühlte ich mich lebendig und geborgen. Ja, ich bin und bleibe ein Stadtkind, das gern mal in die Natur entflieht, dann aber auch wieder zurück in die Zivilisation möchte.