Man möge mir das Folgende verzeihen. Ich bin mit dem Grundsatz „Gemeinwohl geht vor Privatwohl“ großgeworden. Etwa in der Hälfte meines bisherigen Lebens wendete sich das Blatt und fortan hatte nun das Ich im Mittelpunkt allen Tuns zu stehen. Zuerst kamen meine Interessen, meine Selbstverwirklichung, dann eine Weile nichts und dann die Anderen und das Interesse der Gemeinschaft. Einige meiner Mitmenschen hatten das 1990 schnell raus, aber auch ich verstand das Prinzip irgendwann.

Seit mindestens 150 Jahren ist es Usus und mehr oder weniger als systemimmanent hingenommen, dass sich wirtschaftliche Interessen mit verschiedenen Instrumenten Gehör und oft auch Geltung verschaffen. Ich weiß, wovon ich spreche. Irgendwann erkannten immer mehr schlaue Leute, dass man dieses Prinzip auch anwenden kann, um sich individuelle Vorteile zu verschaffen, indem man sich mit Anderen, die gleiche Interessen haben, zusammenschließt. Bis in die neunziger Jahre sprach man deshalb gemeinhin von einer „Interessendemokratie“.

Über die letzten zwanzig Jahre gelang es nach meinem Eindruck immer mehr Gruppen der Gesellschaft, diese Methoden der Einflussnahme zu adaptieren, zu professionalisieren und zu ihrem ganz speziellen Nutzen einzusetzen. Mittlerweile scheint mir diese Entwicklung zu einer „Diktatur der Minderheiten“ auszuufern. Nicht offensichtlich legitime oder Mehrheitsinteressen setzen sich durch, sondern diejenigen, die das Instrumentarium am besten beherrschen bzw. die den größten Lärm schlagen.

Zuweilen geht es dabei noch um echte Vorteile oder Privilegien, wie z.B. beim Kampf der Lobby der blinden Menschen gegen das Elektroauto. Immerhin hat der dazu geführt, dass in E-Autos ein Soundgenerator eingebaut werden muss, der die nicht mehr vorhandenen und von einer großen Mehrheit zweifellos als störend empfundenen Motorgeräusche simuliert. Erzähle mir keiner, dass es dafür keine besseren Lösungen gegeben hätte.

Allzu oft geht es aber auch nur noch um das Rechthaben, um das sich moralische oder intellektuelle Erheben über andere. Ein solches eklatantes Beispiel ist die spätpubertäre Protesthaltung eines kleinen Teils der nicht erwachsenwerdenden Dreißigjährigen. Es geht ums Gendern.

Immerhin macht diese verschwindende Minderheit unserer Gesellschaft Jahr für Jahr Fortschritte dabei, einer kopfschüttelnden Mehrheit mit dem Gendern eine Vergewaltigung ihrer Muttersprache aufzudrängen. Lustigerweise ist man dabei bei weitem nicht so konsequent, wie man gern tut. Oder haben Sie schon einmal von „MörderInnen“, „VergewaltigerInnen“, „KinderschänderInnen“ gehört? Nein, weil es ums Rechthaben, ums Moralisieren, vielleicht noch ums Auflehnen geht. Aber nicht um die Sache.

In der Sache finde ich den Ansatz durchaus überlegenswert, vielleicht gar berechtigt. Aber das ginge auch, ohne dabei eine unserer kulturellen Grundlagen zu verschandeln. Von mir aus könnte man sagen: Fünfhundert Jahre haben wir die männliche Form als typisches grammatisches Geschlecht von Substantiven verwendet. Jetzt sind fünfhundert Jahre lang die weiblichen Formen Standard, also „Mörderinnen“, „Vergewaltigerinnen“, „Kinderschänderinnen“. Dann aber bitte konsequent.

Liebe Gender:Innen! Wenn es euch nicht schon gäbe, müsste man euch unbedingt erfinden. Denn wer seine Kraft auf solchen Nebenschauplätzen verausgabt, hat dann um so weniger davon, um an den realen Verhältnissen etwas zu ändern. Da könnte man ja glatt zum Verschwörungstheoretiker werden. Leider gibt es ein ähnliches Phänomen auch in der entwicklungspolitischen Community. Denn manch eine kämpft dort mit aller Kraft gegen Windmühlenflügel, wie die Umbenennung einer U-Bahnstation „Mohrenstraße”, statt ihre ganze Energie gegen die unglaubliche Ausplünderung Afrikas auch durch deutsche Unternehmen zu richten.


Nachtrag 1: Wütend macht mich, dass das Gendern oft Menschen betreiben, die ich an und für sich mag. Sie sind intelligent, empathisch und bereit, sich für eine Idee zu engagieren. Leider vergeuden sie ihre Kraft an einer für mein Empfinden falschen Sache.

Nachtrag 2: Mir ist schon bewusst, dass mich, der ich zur Generation ihrer Eltern gehöre, viele der Gender:Innen für einen unbelehrbaren alten Mann halten. Dieser kann sich nicht von alten Vorstellungen lösen und für neue Ideen öffnen. Das ist die Arroganz der Jugend, die mir in diesem Alter wohl auch zu eigen war.

Nachtrag 3: Apropos „Jugend“. Die ist mit 30 Jahren irgendwann auch vorbei und siehe da, es rückt auch schon eine wahre junge Generation nach, die die alten Dreißigjährigen belächelt. Unter den zehn Jahre Jüngeren gibt es echte Wut und den Willen, sich nicht mit den Verhältnissen abzufinden. Vielleicht besteht ja Hoffnung.

Nachtrag 4: Als PR-Profi kann ich übrigens, dort wo es verlangt wird, sehr wohl gendern. Ich tue das nicht aus Überzeugung und erlebe oft, dass auch meine Auftraggeber dies nur aus äußeren Zwängen heraus veranlassen. Gemeinsam hoffen wir, dass der Spuk irgendwann vorbei sein wird, dass ein Kind ruft: “Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an.”

Nachtrag 5: Auch wenn ich unschlüssig bin, was Ursache und was Wirkung ist, so stelle ich doch bei der Generation der Dreißigjährigen abseits vom Genderwahn und trotz gediegener akademischer Bildung ein gewisses Defizit bei Ausdruck und Stilistik der deutschen Sprache fest. Auch vermisse ich in ihrem Satzbau an allzu vielen Stellen Kommas. Gibt es da einen Zusammenhang?